Wo einst die Scham zu spüren war, regieren heute Gleichgültigkeit und Aggressivität. Einblicke in die deutsche Insolvenz-Gesellschaft, am Beispiel des Potsdamer Amtsgerichtes.

Erschienen am 25. September 2019 in DIE ZEIT

Wenn Stefan Berger (Name geändert) immer mittwochs von einem Termin zum nächsten fährt, drückt er Klingelknöpfe, erst ein Mal, dann noch ein zweites Mal, doch nur selten öffnet ihm jemand die Tür. Berger ist Gerichtsvollzieher. Noch vor kurzer Zeit, sagt der 47-Jährige, da erwarteten ihn die Schuldner häufig mit Tränen in den Augen. Heute scheint kaum noch jemand die Briefe ernst zu nehmen, in denen er den Tag und die Zeitspanne seines Kommens ankündigt. Statt Respekt vermehrt Ignoranz, so empfindet es Berger. Man könnte es aber auch so interpretieren: In Deutschland verlieren sich immer mehr Menschen in ihren Schulden. Schockstarre hinter verschlossenen Türen.

Jahr um Jahr wiederholt sich diese Nachricht: Trotz guter Konjunktur gibt es immer mehr überschuldete Menschen. Laut dem Schuldenatlas von Creditreform konnten 2018 fast sieben Millionen Menschen ihre Rechnungen nicht mehr begleichen. Davon hängt mehr als die Hälfte dauerhaft in einer Schuldenschleife. Die Auswirkung kann besonders eindrücklich an Amtsgerichten beobachtet werden. Sie sind wie Apparate, die die Prozesse hinter den Schulden steuern, ob bei Sümmchen, Summen oder Schuldenbergen. Fast täglich blicken die Mitarbeiter in Dutzende Leben: in Gesichter von überschuldeten Villenbewohnern, von Kindern im Kaufwahn, von insolventen Familienvätern. Sie spüren, wenn in Deutschland der Aufschwung ruft, spüren es, wenn sich die Not breitmacht. Man könnte sie auch als Analysten für verfallendes Vermögen bezeichnen.

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